Ted Honderich
Gibt es ein Recht auf Terrorismus?
Lecture
DAS SONNTAGSGESPRÄCH mit der Universität Leipzig. DAS ERSTE
Sonntag, 19. Oktober 2003, 11:00-12:45 Uhr
Universität Leipzig, Hörsaalgebäude, HS 19

(There is also a slightly revised English version.)
   
1. Das Prinzip der Humanität
2. Die Frage eines moralischen Recht für/der Palästinenser 
3. Die Geläufigkeit der furchtbar schrecklichen Antwort
4. Die Wahrheit der Antwort
5. Die Bestätigung (eigentlich: Behauptung) der Antwort
6. Verhandlung und Vergeblichkeit
7. Antisemitismus, Schuld, Schweigen

1. Das Prinzip der Humanität

Die Frage ‘Gibt es ein Recht auf Terrorismus ?’ fragt offensichtlich nicht danach, ob es ein rechtsgültiges Anrecht, ein Recht der nationalen oder internationalen Gesetzgebung auf Terrorismus gibt. Die Frage muss doch die sein, ob es ein moralisches Recht gibt. So verstehe ich sie auch.

Meine Antwort basiert letztendlich auf dem, was ich für ein fundamentales moralisches Prinzip halte, dem wir alle verpflichtet sind. Es ist das Prinzip der Humanität. Dieses besagt, dass wir rationale Schritte unternehmen müssen, das bedeutet wirklich effiziente und menschlich nicht verschwenderische, um Menschen dauerhaft aus ihren elenden oder anderweitig schlechten Leben (Lebensbedingungen) zu befreien.

Schlechte Leben werden (dabei) über die Entbehrung der großen Güter definiert, die Befriedigung der großen menschlichen Wünsche. Diese haben zu tun mit

(1) der angemessenen Länge des Lebens, sagen wir 70 Jahre statt bloß 35 Jahre
(2) dem materiellen und physischen Wohlergehen
(3) Freiheit und Einflussmöglichkeit (Macht) -- Handlungsvollmachten
(4) Achtung und Selbstachtung
(5) zwischenmenschlichen Beziehungen
(6) den Gütern Besitztümern/ Besitz einer Kultur

Das Prinzip der Humanität ist ein konsequentialistisches Prinzip. Darum gilt es, in meinen Augen, wie alle Prinzipien und Urteile der Moralität ohne Ausnahme -- wenigstens wenn sie wirklich Gründe für ein Handeln geben, was ja von ihnen erwartet wird. Das Prinzip ist offensichtlich nicht das utilitaristische Prinzip. Sein Ziel ist eben nicht die Maximierung der Summe des Glücks oder der Befriedigung, unabhängig davon wie diese Summe verteilt wird.

Wir alle sind diesem Prinzip verpflichtet, weil wir alle Gründe haben können, es, z.B. gerecht zu finden, dass wir nicht monatelang gequält werden sollten, wenn der daraus resultierende Gewinn bloß ist, dass jemand anderes ein Auto besitzen kann, anstatt einen Monat lang mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu seiner Arbeitsstelle zu fahren.
Es ist auch eine Tatsache unserer menschlichen Natur, dass wir annehmen und annehmen müssen, dass solche Gründe auch in anderen und davon unterschiedenen Fällen gelten.

2. Die Frage eines moralischen Rechts für Palästinenser

Sie können Terrorismus schon per definitionem verwerflich machen, wie man auch Profit und beliebiges andere per definitionem verwerflich machen kann. Damit kommen Sie nirgendwo hin. Um ein Argument voranzubringen, müssen Sie dann, z.B., zeigen, dass das, was die Palästinenser tun, wirklich Terrorismus nach Ihrer Definition ist. In dergleichen argumentativen Position befinden Sie sich, wenn Sie Terrorismus von vorneherein so definieren, dass sich diese Frage nicht stellt, und dann überlegen, was daran falsch ist.

Terrorismus wie er gewöhnlich definiert wird kann natürlich auch andere Dinge meinen. Es könnte also Selbstverteidigung, Widerstand, Widerstand gegen ethnische Säuberungen, der Kampf eines Volkes für Befreiung, der Kampf eines Volkes um ihre bloße Existenz als Volk sein.

Denken Sie jetzt an die Tötung eines israelischen Kindes durch eine palästinensischen Selbstmordattentäterin. Denken Sie auch an die Tötung eines palästinensischen Kindes durch einen israelischen Luftwaffenoffizier von einem Kampfhubschrauber aus. Der sagt natürlich, dass er, hätte er die Wahl gehabt, lieber nur den HAMAS Terroristen in der Nähe des Kindes getötet hätte. Die palästinensische Selbstmordattentäterin sagt, natürlich, effektiv dasselbe, wahrscheinlich ebenso wahrhaftig. Sie hätte sich ebenfalls darum bemüht, hätte sie die Möglichkeit gehabt, ihr Volk zu retten, ohne das israelische Kind zu töten.

Mein Buch “Nach dem Terror”, das ein ganz anderes Thema behandelt, frage sich diese Dinge nur am Rand. Die Antwort darin war, dass die palästinensische Selbstmordattentäterin ein moralisches Recht zu ihrem Akt des Terrorismus/ Terrors hat, und dass der Israeli im Hubschrauber kein moralisches Recht zu seinem Akt des Staatsterrorismus/Terrors  hat.

Die Klärung einer solchen Behauptung eines moralischen Rechts, läuft in diesem Fall darauf hinaus: der palästinensischen Selbstmordattentäterin war es moralisch erlaubt, wenn nicht geboten, zu tun was sie getan hat -- eben dieses Urteil wird gestützt von einem grundsätzlichen und akzeptierten moralischen Prinzip.

Die Antwort auf die Frage des Terrorismus, die Tötung des israelischen Kindes, ist eine furchtbar schreckliche Antwort. Aber es ist die Antwort, die ich weiterhin verteidige. Hier kann ich nur einige Worte dazu sagen.

3. Die Geläufigkeit der furchtbar schrecklichen Antwort

Die furchtbar schreckliche Antwort zum moralischen Recht der Palästinenser ist auf bedeutende Weise gar nicht ungewöhnlich. Die komplementäre Antwort des Neo-Zionistischen Tötens wird offen oder verdeckt täglich von den Neo-Zionisten gegeben.

Betrachten Sie, für einen Moment, die/ einige Punkte/Tatsachen aus unserer überbordenden Geschichte. Das Terror-Bombardement auf Deutschland im zweiten Weltkrieg, das ebenso zum Ziel hatte, Zivilisten zu töten, wie Hitler zu besiegen, wurde von uns Briten und unseren Politikern gerechtfertigt. Ebenso der Genozid, der mit der Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika einherging. Ebenso die Ermordung britischer Gefangener durch jüdische Terroristen, die der gerechtfertigten Sache der Gründung eines Staates Israel nach dem Holocaust dienten.

4. Die Wahrheit der Antwort

Es gibt eine Tatsache in dieser Sache, welcher von zwei möglichen Handlungsverläufen, von denen die Selbstmordattentäterin einen wählte, dem Prinzip der Humanität besser dient. Es ist möglich, darauf hoffe und vertraue ich, diese Tatsache zu sehen oder zu entdecken. Weiterhin gibt es die Wahrheit des Prinzips der Humanität selbst. Dies basiert, wie Sie gehört haben, auf Wahrheit im Bezug auf unsere Natur, unsere Existenz.

Es gibt noch eine weitere Tatsache, eine einfachere Wahrheit, die zu den beiden ersten hinzukommt. Es ist eine historische Tatsache, die ein Volk betrifft und die Usurpation (widerrechtliche Aneignung) seiner Freiheit und Handlungsmacht und so auch anderer großer Güter.

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gab es ungefähr 50 mal mehr Palästinenser als Juden in Palästina. Nach dem zweiten Weltkrieg, als die Vereinten Nationen zu Recht und doch auch ungerechter Weise beschlossen, das Heimatland der Juden aus einem Teil Palästinas zu machen, gab es gleich viele Juden und Palästinenser in diesem Teil Palästinas. Es gab 80 mal mehr Palästinenser als Juden im anderen Teil. Heute gibt es einen jüdischen Staat, der das verbleibende Heimatland der verbleibenden Palästinenser bedroht (stört, verletzt).

5. Die Bestätigung der Antwort

Erwidern Sie nun, dass - sogar wenn das moralische Recht der Palästinenser an ihrem Terrorismus gerechtfertigt ist oder wäre, es dennoch Gründe gibt oder gäbe, dieses Recht nicht zu behaupten (durchzusetzen) ?

Es scheint mir, dass diese Wahrheit, nicht wie einige andere Wahrheiten, danach schreit, geäußert zu werden. Es schreit danach, in angemessener Sprache und mit angemessener Leidenschaft vorgetragen zu werden. Ein Grund hat mit einer weiteren Tatsache der menschlichen Natur und Geschichte zu tun, der weniger zählt als die bereits erwähnten, aber doch von großer Wichtigkeit ist.

In einem Konflikt wie dem in Palästina, betrifft die wesentliche Frage, wer und was Recht hat, die natürlich unvermeidlich ist, und mit welcher wir uns befasst haben. Es gibt auch herkömmliche Vorstellungen (Neigungen, Annahmen)  über den Konflikt. In einem Wort, sind dies Neigungen, die mit dem, was offiziell, legitimiert oder anerkannt ist, einhergehen. Darunter ist die Neigung, einer Demokratie, einem Staat, einer Macht zuzustimmen. Oder eben einer Supermacht.

Wenn Sie nicht offen für die Gerechtigkeit der palästinensischen Sache einstehen, fördern Sie solche zweitrangigen Neigungen. Es ist tatsächlich unehrenhaft, sich selbst zu erlauben, oder andere dazu zu ermutigen, im Griff von Kategorien des Offiziellen oder etwas ähnlichem zu sein. (sich von solchen offiziellen Kategorien oder ähnlichen einnehmen zu lassen.)
Die Gaskammern waren offiziell. Hitler war gewählt.

6. Verhandlung und Vergeblichkeit

Ein Volk hat zwei Möglichkeiten, Dinge zu erreichen und zu sichern (zu behalten), als da wären (das sind, eben) Gewalt und Verhandlung. In jeder Phase des Konflikts in Palästina ist gesagt worden, dass die Palästinenser die Gewalt aufgeben und verhandeln müssten.

Dabei wird meist eins vergessen. Verhandlung ist das Mittel der Konfliktpartei, Dinge zu erreichen und zu sichern, deren Position und letztendlich Macht stärker ist. Gewalt ist das Mittel der anderen Konfliktpartei, der Partei ohne andere Mittel. Es liegt im Interesse jeder Partei und ihrer Anhänger (Befürworter), die Mittel der anderen zu verurteilen und dagegen Widerstand zu leisten. Die Verantwortung des moralischen Nachdenkens ist es, zu versuchen herauszufinden, was richtig ist.

Es gibt Männer und Frauen, die meine Ansichten teilen, im Wesentlichen Befürworter des Prinzips der Humanität, die sagen, der palästinensische Terror sei sinnlos. Es muss auch zugegeben werden, dass die Faktenfrage des endlichen Ausgangs des palästinensischen Hier scheint ein Wort im Englischen zu fehlen: Terrorismus ? , die am schwersten zu beantwortende Frage ist. Aber es ist auch möglich anzunehmen, wie ich es tue, dass dieser Handlungsweg, und nur dieser Weg, die Freiheit und Handlungsmacht eines Volkes in ihrem Heimatland sichern kann. Was die Advokaten der Verhandlung jetzt noch anbieten können, sind bloß elende “bantustans”, oder vielmehr nur das Versprechen, diese zu gewährleisten.

Dem kann noch etwas anderes hinzugefügt werden. Die Juden im Warschauer Ghetto kämpften bis zuletzt -- hoffnungslos, wie es heißt. Sie erinnern uns daran, dass in dem Hoffnungslosen ein Realismus liegen kann. Man kann kämpfen, nicht für sich selbst und die eigene Zeit, sondern für die, die nach uns kommen. Die Palästinenser können dies auch.

7. Antisemitismus, Schuld, Schweigen

Widerstand gegen den Neozionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen, bedeutet die Gleichsetzung 1) eines Widerstands gegen einige Juden und auch andere - in keinem Fall weil sie Juden sind  -- mit 2) einer Haltung allen Juden oder den Juden im allgemeinen gegenüber. Wer den Vorwurf des Antisemitismus macht, mag sich in einer laxen Art ausdrücken, was er wirklich tut, wenn er von ‘antisemitischem Antizionismus’ spricht. Dies bedeutet die Gleichsetzung eines Widerstandes gegen Sharon mit einer Sympathie für die Gaskammern, mit dem Abschaum des Neonazismus in Deutschland heute, und so weiter.
Den Vorwurf des Antisemitismus gegen jemanden wie mich zu führen, hinzuzusetzen oder zu implizieren, mein Buch suche die Schuld am Hunger in Afrika bei den Juden, oder dass ich im Fernsehen gesagt habe, dass Deutschland heute von Juden organisiert werde -- lassen Sie mich dazu nur eins sagen: Dies (diese Haltung) bedeutet, nicht Teil zu haben an der großen und anhaltenden Tradition der jüdischen Humanität in der Moral und in der Politik, in der so viele edle Männer und Frauen stehen. Es bedeutet nicht in dieser ausgezeichneten Gesellschaft zu stehen, die von mir noch bevor ich jemals von meinem Ankläger Brumlik erfuhr, hoch gelobt wurde.

Endlich gibt es eine schreckliche Frage, die die Deutschen und ihre Vergangenheit und ihr heutiges Schweigen zu der Verletzung Palästinas durch die Neozionisten betrifft.

Ist es so, als habe Ihr Vater eine Frau ermordert -- und als Resultat schweigen Sie nun zu einer Vergewaltigung, die der Sohn dieser Frau begeht ?

Keine wichtige Frage wurde jemals durch das Behaupten einer Analogie gelöst. Aber sicherlich machen wir häufig Gebrauch von Analogien im moralischen Denken, wie wir in anderen Begründungen und Nachforschungen Modelle verwenden, vor allem in der Wissenschaft. Man kann die Frage durch ein Argument, das das Prinzip der Humanität benutzt, rechtfertigen. Lassen Sie mich zur Antwort auf die Frage  nur einen Kommentar geben.

Heute leben relativ wenige Deutsche, die am Holocaust teilgenommen haben. Ich spreche zu den anderen. Welche Beziehung sollte Ihr Handeln bestimmen, Ihr Schweigen und Ihr Sprechen eingeschlossen ? Eine Beziehung zu denen, die Ihr Vater getötet hat ? Eine Beziehung zu Ihrem Vater ? Zu den Söhnen und Töchtern seiner Opfer ? Oder eine Beziehung zu denen, die im Elend leben, wer immer sie sein mögen. Die Antwort, die das Prinzip der Hoffnung gibt, ist letztendlich letztere (die letzte).

Das bedeutet nicht, dass alle anderen Überlegungen zu Beziehungen unberücksichtigt bleiben. Es gibt andere Beziehungen. Wir stehen nicht nur in Beziehung zu den Opfern, sondern auch zu anderen, die zur Unterstützung dieser Opfer aufgerufen werden können, dazu, deren gemeinen Missbrauch zu beenden. Die Deutschen stehen in einer Beziehung zu den Amerikanern, die festlegen, was mit Palästina geschehen wird.

Die Deutschen sind heute zu Recht dafür bekannt, die Schuld ihrer Väter auf sich zu nehmen. Sie haben eine Art moralische Überlegenheit, die nicht von dem ganzen Rest von uns geteilt wird. Der Holocaust war nicht der erste oder letzte Genozid in der Geschichte. Andere Täter haben ihre Schuld nicht so willig angenommen und sich damit auseinandergesetzt.

Aus diesem Grund der moralischen Überlegenheit haben die Deutschen heute eine besondere Verpflichtung gegen Vergewaltigung zu sprechen. Sie werden ein bisschen mehr als andere Nationen gehört. Es gibt einen Grund dafür, dass sie gehört werden, nämlich ihre Stellung. Diese moralische Position ist auch der Grund für ihr bisheriges Schweigen. Sie können mehr als der Rest von uns tun, Amerika aus seiner ignoranten Trance zu erwecken.

Das ist nicht alles. Sie können sagen, wie ich es tue, und im Einklang mit der Humanität, dass die Deutschen heute eine gewisse Verpflichtung denen gegenüber haben, die ihre Väter umgebracht haben, denen, die nicht mehr sind. Sie haben eine Verpflichtung, für die Zukunft, es weniger wahrscheinlich zu machen, dass diese Opfer ihrer Väter nicht völlig umsonst gestorben sind.


Anmerkung

Der ganze Aufsatz, von dem dies heute nur eine Art Zusammenfassung darstellt, findet sich auf meiner web-Seite: http.//www.homepages.ucl.ac.uk/~uctytho
Mehr dazu steht in verschiedenen Büchern. “Nach dem Terror” wurde von der Edinburgh University Press und der Columbia University Press veröffentlicht, vom Suhrkamp Verlag ins Deutsche übertragen und vom Markt zurückgezogen. Es wird nun in Kürze wieder beim Melzer Verlag erscheinen. “Terrorism for Humanity: Inquiries in Political Philosophy”, die Überarbeitung eines früheren Buches, wird von der Pluto Press veröffentlicht.  “On Political Means and Social Ends”, und ebenfalls auf Deutsch vom Kai Homilius Verlag. eine Sammlung philosophischer Aufsätze, wird von der Edinburgh University Press veröffentlicht und auf Deutsch von Kai Homilius.

Übersetzt von Beatrice Kobow

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